Der verdammt lange Atem

… den es braucht, um eine toxische Beziehung aus dem System zu bekommen.

Content Notes:
– Vergewaltigung, Abuse, abusive Beziehung, sexuelle Gewalt, sexuelle Übergriffe, andere Gewalt, Ignorieren eines eigenen Neins / Zitieren von Gedanken in diese Richtung; Beschreibung von Szenen eines Films, die in die oben genannten Richtungen CNs verdienen
– Nennung von Familie und Trauma
– Spoiler für “Birds of Prey”

Es ist nachts, früher Morgen am 20. Februar, irgendwie am Anfang der Zeit, zu der ich normalerweise schlafe, und ich werde leider noch eine Weile wach liegen. Ich habe den Fehler gemacht, ins Kino zu gehen, einen guten Film zu sehen – und dabei nicht daran zu denken, dass mir mehrere Menschen und meine Begleitung vorher sagten, wie wichtig sexuelle Gewalt in diesem Film sein würde.

Und das wurde wieder ein ganz eigenes Konstrukt. Es traf mich nicht sofort, nicht im Film selbst, ich war auch nach dem Film eher getroffen davon, gewarnt worden zu sein (Fehlschluss, aber sehr präsenter Fehlschluss, vielleicht nur deshalb getroffen gewesen zu sein – oder mich vielleicht nicht getroffen zu fühlen, obwohl ich es eigentlich bin; so ein Zeug).

Ich habe vorher gewusst, dass es eine scheiß Zeit für diesen Film sein würde – statistisch gesehen liegen viele wichtige Daten damals am Anfang des Jahres und wirklich unbeeindruckt von triggernden Themen aller Art bin ich eigentlich immer erst wieder im März. Und ich bin trotzdem in diesen Film gegangen, und es fühlte sich selbst beim Rausgehen noch nach einer guten Idee an. Ich dachte an die fiese Szene, in der eine Figur zum Ausziehen vor Leuten geszwungen wird. An die, in denen Typen versuchen, eine Frauenfigur unter Drogen anzufassen. Oder mitzunehmen. Und daran, dass die verantwortlichen Typen dann auch einer nach dem anderen mehr oder weniger eklige, schmerzhafte Tode erleiden (they fucking had that coming).

Ich hatte all diese Bilder im Kopf, und ich fühlte mich okay. Es war ein gutes Gefühl, eins mit Abstand, eins einer Person, die so etwas wieder unterhaltsam finden kann, ohne dass es an ihr zieht.

Und trotzdem sagte ich danach Ja, als es im Raum stand, mit zu dieser lieben, wunderbaren Person zu gehen. Obwohl ich eigentlich Nein sagen wollte. Und richtig spüren konnte, wie es mir auf der Zunge lag, und ich es hinunterschluckte. Plötzlich voller Gedanken von “Es klappt ja nicht jedes Mal” und “etwas ausgleichen müssen”.

Auf dem Weg nach Hause (alleine, nach etwas gutem Reden darüber) kamen zum ersten Mal seit aktiven Triggern auf einer Chaos-Veranstaltung 2019 wieder Tränen, und plötzlich war klar, dass es andere Tränen waren als sonst. Kein Schock, kein Verlust der Vorstellung einer Person damals, in die ich einmal verliebt war. Sondern Trauer um die Person, die ich sein könnte ohne den ganzen Scheiß. Mutig. Mit so viel weniger Trust Issues. So viel weniger Abenden, an denen ich spüre, wie ich gute Dinge erleben will, ob jetzt Sex mit Menschen oder auch nur irgendetwas, das mich an ihn erinnern könnte (eine Art von Nudelsauce! Ramen! Eine verdammt tolle Stadt im Ausland!) – und wie ich diese Dinge dann liegen lassen muss.

Vielleicht ist das beruhigend. Mit Gefühlen kann ich etwas anfangen, wenn ich sie definieren kann. Und dieses Gefühl ist scary, weil es mich seit so langer Zeit auch mal wieder mit Gefühlen konfrontiert, die ohne vermeidbare Trigger hochkommen. Trauer, welcher Art auch immer, ist ein allgegenwärtiges Gefühl. Ich werde in den nächsten Wochen und Monaten irgendwie lernen müssen, dieses Gefühl immer dabei zu haben. Aber – und das macht Hoffnung – eine neue Phase bedeutet auch immer einen Schritt nach vorn. Egal, wie das Ergebnis aussieht und ob ich mich fühle, als wäre ich drei Schritte zurück gefallen statt einen Schritt nach vorn gegangen. Es geht weiter. Nicht immer gradlinig. Es wird nicht immer besser. Aber es geht weiter.

Und jeder Schritt führt mich weiter weg von dem ganzen Scheiß.

Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist mit dieser Phase und dem ganzen Ablauf der Phasen, der Besserung oder all dem. Deshalb bin ich vielleicht auch nur ein Imposter, völlig unqualifiziert und einfach trotzdem hier am Schreiben darüber, wie so ein random weißer dyacis Typ, der zur richtigen Zeit den richtigen anderen Typen kannte. Aber vielleicht kann ich nach dem Scheiß der letzten Jahre auch ein bisschen behaupten, wenn schon keine Ahnung von all dem hier, dann zumindest einiges an Daten gesammelt zu haben.

Und die Daten sagen: Es tut weh. Es ist kein gradliniger Weg. Die Daten sagen: Du wirst manchmal überlegen, zu einer Familienfeier zu fahren, die dir wichtig ist, weil du das Dorf deiner Eltern vielleicht nicht betreten kannst. Du wirst manchmal überlegen, ob du wieder lernen musst, die Stadt zu betreten, in der dein Zug ankommen würde, die Stadt, in der er damals gewohnt hat und in der du so oft mit ihm warst, und die trotzdem die einzige größere Stadt auf der Ecke ist und damit auch die, in der du die meisten der noch anstehenden Familienfeiern deines Lebens feiern wirst, denn ohne Trauma ziehen Leute von hier statistisch gesehen anscheinend nicht weg.

Die Daten sagen: Es gab Tage, da konnte ich mich weniger in den Räumen von früher bewegen als zu statistisch gesehen viel verletzlicheren Zeiten in der Schule – Zeiten, von denen ich immer dachte, ihre Auswirkungen auf mich würden nie, nie wieder so stark zurückkommen. Und es wird solche geben. Die Daten sagen auch, dass ich den Jahresanfang abschreiben kann, wenn es um Verlässlichkeit geht. Und sie lassen vermuten, dass es noch eine Weile so bleiben wird.

Und die Daten sagen, dass ich die Liniarität, mit der sich einmal mein Mut und mein Selbstwert entwickelt hat, unwiderruflich verloren habe. Die Daten anderer Menschen lassen mich nicht ausschließen, dass ich nie wieder darauf zählen kann, dass es einmal erneut so gut und verlässlich wird wie vor der Beziehung.

Das muss ich mir erlauben, in der Ganzheit der Daten darüber wahrzunehmen. Es ist legitim, darum zu trauern, was hätte sein können. Immerhin gestehe ich das auch anderen Betroffenen zu.

Ich weiß nicht, wie so ein Trauern aussehen kann. Aber klar ist, dass ich mir das erlauben sollte. Ich werde es versuchen.